EU - diesmal von innen
Aktualisiert: 17. Juli 2024
Die renovierten Fischerhütten des Podeltas bei Comacchio
Die wunderbaren Bilder von Italiens überreicher Kultur, Geschichte und Landschaft waren noch im Kopf. Vom Monte Rite, Monte Grappa und Vittorio Veneto habe ich vor einer Woche erzählt und von der geradezu unwirklichen Entwicklung von erbitterten Kriegsgegnern zu sich eifrig gegenseitig besuchenden und respektierenden Touristen. Noch interressanter als diese touristischen Trends finde ich allerdings, welcher Wandel in den Köpfen von Menschen möglich ist. Ich war ein jugendlicher Zuhörer, als ich zu Italien höchstens Herablassendes hörte. An Kommentare über die schwache Lira kann ich mich noch heute gut erinnern. Noch zur Zeit der Euro-Bargeld-Einführung 2002 war es den gestandenen Bibione-Urlaubern in meiner Familie klar, dass der Euro nichts wert sein kann, wenn ihn die Italiener auch kriegen.
Umbrien vor der Anhöhe von Assisi
Bewirkt das vielleicht die kulinarische Raffinesse, die man mittlerweile zu schätzen weiß oder hat die Frau Gemahlin einmal einen Einkaufsbummel in den Arkaden von Bologna erlebt? Was auch die Gründe im einzelnen sein mögen: In jedem Fall kann man den Nachbarn - die sucht man sich ja bekanntlich nicht aus - inzwischen doch sehr anders sehen.
Zugegebener Weise war da also einiges schon proeuropäisch eingestimmt in meinem Kopf, als wir einen Tag nach unserer wunderbaren Italienreise am 3. Juli 2024 in der Diplomatischen Akademie in Wien zum Vortrag von Dr. Martin Selmayr Platz nahmen. "AFTER THE ELECTIONS: WHATS NEXT FOR EUROPE?" titelte die vollständig in Englisch durchgeführte Veranstaltung. Schon der Ruf, der Selmayr vorauseilt ist durchaus beeindruckend. Als vehement die Vision der Europäischen Einigung erklärender Sprecher wird ihm allseits seine herausragende Kenntnis der inneren Entscheidungsstrukturen der Europäischen Institutionen bescheinigt. Durch seinen Vortrag fühlte ich mich stark an den österreichischen Schriftsteller Robert Menasse erinnert. Die Lektüre von Menasses, 2014 erschienenen "Reden (wir) über Europa" öffneten mir damals schmerzlich die Augen für mein unentschuldbar schlechtes Wissen über die EU. Glaubhaft schildert er darin, wie er durch bessere Kenntnis der Institutionen den Grund für falsche Erwartungen findet und erst die wirklichen Potentiale der großen Institution entdeckt. Dies mindert aber leider nicht das Bedauern, dass ich auch heute immer noch auf ähnlich desaströses Wissen von Menschen treffe, deren schwaches Interesse weder von Hochglanzbroschüren, Internetportalen oder der neuen "Erlebniswelt Europa" in der Wiener Rotenturmstraße wachgerufen werden konnte. Hat man ihn einmal gehört, wünscht man sich unweigerlich noch viel mehr solche Selmayrs, weil es auch in unserer digital informierten Zeit immer noch persönliche Überzeugung und - ja - Begeisterung braucht, um Interesse an der nur scheinbar selbstverständlichen Demokratie zu wecken. Gerade sein Schlusssatz:
Ich glaube, wir tun zu wenig für unsere Demokratie!
hallt noch nach in mir von einem Abend, an dem er treffend verstand, den Wert der Demokratie vor Augen zu führen.
An einem Aspekt, der viel davon enthält, verstand er zu demonstrieren, wieviel Demokratie schon jetzt in den keineswegs perfekten EU-Institutionen steckt: Die EU-Wahlen, gerade erst von 6. bis 9.Juni europaweit abgehalten, sind auch insofern ein gutes Beispiel dafür, weil neben nationalen Wahlen, zumeist übrigens von weiteren unteren Ebenen begleitet, zumindest schon die zweite Ebene eines demokratischen Prozesses sind. Die Kandidaten auf den Listen der EU-Wahl müssen bereits die Kriterien erfüllen, die allen 27 Länder für demokratische Wahlen beschlossen haben. Viele europäische Demokratien arbeiten schon als Nation mit 2 Kammern. In Österreich sind das der vorrangig wahrgenommene Nationalrat und der weniger beachtete Bundesrat, der komplementär dazu die Interessen der Bundesländer vertritt. Zwei Ebenen der Entscheidung finden sich aber auch in der institutionellen Konstruktion der EU. Hier ist der Europäische Rat (European Council) jenes Gremium, in dem jedes Land durch seine Regierungschefs oder Staatsoberhäupter vertreten ist. Weil die riesige Institutionen von 27 Ländern aus einigen großen, vielen mittleren und kleinen Ländern besteht, wurde für die Entscheidungsfähigkeit des Europäischen Rats die "qualifizierte Mehrheit" geschaffen, der gemäß mindestens 72 % (=20) der 27 Regierungs- oder Staatschefs für eine solche Mehrheit erforderlich sind. Damit nicht genug, müssen diese 20 Personen auch 65 % der
+Bevölkerung der EU vertreten.
Die EU-Wahl vom 9. Juni betraf aber die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments. Über die Zusammensetzung dieses Parlaments entscheidet grundsätzlich die Bevölkerungsgröße des Landes, allerdings wird auch hier die Gefahr allzu großer Dominanz der großen ebenso wie die Gefahr der völligen Marginalisierung der kleinen Länder vermieden. Zu diesem Zweck ist die Größe der nationalen Abordnungen auf maximal 96 und minimal 6 Abgeordnete gedeckelt. Österreich entsendet insgesamt 20, diese teilen sich folgendermaßen auf:
6 Abgeordnete der FPÖ in der (neu geschaffenen) Fraktion Patriots für Europe (84)
5 Abgeordnete der ÖVP in der Fraktion Europäische Volkspartei (188)
5 Abgeordnete der SPÖ in der Fraktion Sozialdemokraten (136)
2 Abgeordnet der Grünen in der Fraktion der Grünen (53)
2 Abgeordnete der NEOS in der Fraktion Renew Europe (77)
Was auch Selmayr in seinen Ausführungen bemängelte, ist das verschämte Verschweigen der konkreten Auswirkung der Wahlen auf die Arbeit im Europäischen Parlament in all den zahlreichen Wahlkampfreden und -plakaten. Im Europäischen Parlament wird nämlich in Europäischen Fraktionen zusammengearbeitet (und abgestimmt!), in denen die Nationalität KEINE Rolle spielt. In dieser Abstimmungsrealität kommt es also darauf an, mögliche Allianzen und thematischen Überschneidungen in den Themen zu suchen. Erfolg bei der EU-Wahl bedeutet damit vor allem Erfolg der Europäischen Fraktion, der man angehört. Um den Wähler im jeweiligen Land zu motivieren, wird dieser sehr bedeutende Zusammenhang meist nicht besonders betont, es sind ja immerhin die Nationen, aus denen die Stimmen kommen müssen. Das mag noch nachvollziehbar sein. Weniger einleuchtend hingegen ist die Tatsache, dass diese letztlich entscheidende Zusammenschau der Fraktionen nur als "Kleingedrucktes" in die Wahlberichterstattung der Medien Eingang findet. Das wirkt sich gravierend aus, wenn von einem bedeutenden Rechtsruck in Europa geschrieben und gesprochen wird, während die neue Zusammensetzung des 720-köpfigen Parlaments sich wohl verschoben hat, allerding eher moderat. Insbesondere hat die schon bisher mandatsstärkste Partei (die EVP) sogar hinzugewonnen. Es stellt sich wie an anderen Stellen auch heraus, dass die Liebe für große Schlagzeile Vorrang hat vor der differenzierten Darstellung von Trends, die noch dazu in den EU-Ländern sehr verschieden sein können. Das heißt nun nicht unbedingt, dass die Redaktionsstuben nur mit ahnungslosen Dummköpfen besetzt wären. Eher darf man davon ausgehen, dass damit die recht gut bekannte Interessenslage in der eigenen Leserschaft oder Zuhörerschaft bedient wird. Nichts Neues also. Es waren ja auch nur EU-Wahlen.
Whats next in Europe? titelte die Diplomatische Akademie den Abend mit Martin Selmayr. Selbst ein korrektes Transkript seines Vortrages würde die Dynamik seines Vortrags nicht wiedergeben. Ich habe daher untenstehend die Video-Aufzeichnung der DA samt Einführung, Moderation und Publikumsfragen eingestellt. Aus seinen vielen foliengestützten Ausführungen möchte ich hier nur den Gedanken der doppelten Demokratie zu Ende führen, der in den anstehenden nächsten Entscheidungen nach der Wahl gut sichtbar wird.
Besonders die Prozedur zur Bestimmung der nächsten EU-Kommission, die für die nächste 5-Jahres-Periode die Regierung der EU darstellen wird, lohnt es, hier eigens dargestellt zu werden. Als Kommission versteht man den Präsidenten/die Präsidentin der Kommission und ihre 27 Kommissare. Die Prozedur beginnt damit, dass der EU-Rat sich darauf einigen muss, eine Person vorzuschlagen. Vor der Wahl stellt dieser/diese in einem eigenen Papier das Regierungsprogramm vor. Die Person wird also zusammen mit seinem Vorhabensprogramm gewählt. Erst nach dieser Wahl erfolgt die Zusammenstellung der 27 Kommissare. Dabei stehen der Präsidentin/dem Präsidenten die vorgeschlagenen Personen der Nationen zur Verfügung, allerdings hat er/sie hier ein Mitspracherecht, ob er/sie mit jeder dieser Personen die kommenden 5 Jahre zusammenarbeiten kann oder will.
Bevor ein künftiger Kommissar* vom Parlament bestätigt werden kann, muss dieser die hoch respektierte Prozedur des Hearings bestehen, bei dem ihm von ausgesucht fachkundigen Parlamentariern auf seine Fachkundigkeit hin auf den Zahn gefühlt wird. Selmayr berichtet in launigen Worten, welchen großen Respekt diese Prozedur bei den Kommissaren in spe genießt und schmückt dies am Beispiel der Fischerei-Kommissars aus, der sich wochenlang auf dieses Hearing vorbereitet. Diese Phase der Hearings wird abgeschlossen mit der Abstimmung über die gesamte Kommission. Selbst wenn man nun die Kür durch den EU-Rat nicht als Wahl bezeichnen will, bleiben aber noch zwei Abstimmungen im Parlament. Soviel zum unbeirrt kursierenden Vorwurf der demokratisch mangelhaft legitimierten EU-Kommission.
Die Herausforderungen für die Institution EU bleiben riesengroß. Es ist müßig, sie hier alle aufzählen zu wollen. Auch ein Martin Selmayr kann sie mit all seinem rhetorischen Geschick nicht aus der Welt reden. Doch wie er können wir auch das Trommeln makelloser Ansprüche und fehlerloser Performance sein lassen und statt dessen eine balancierte Sicht einnehmen und die enormen Fortschritte auch zur Kenntnis nehmen, die Europa schon gemacht hat - allen Widerständen zum Trotz!
*Für den Kommissar beschränke ich mich auf die männliche Form. Selbstverständlich gelten die Aussagen auch für Komissarinnen.
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