Mein Leben im Anthropozän
Die Wassertemperatur im Mittelmeer, gemessen mit Copernicus-Satelliten Sentinel 3A
Die Internationale Kommission für Stratigrafie (ICS) beschäftigt sich mit Fragen, die üblicherweise nicht unbedingt das alltägliche Leben der Menschen berühren. Sie ist eine Unterorganisation der ebenso wenig bekannten International Union of Geological Sciences. Die ICS beschäftigt sich damit, exakte und transparente Kriterien für die Einteilung des gesamten Erdzeitalters in chronologisch aufeinanderfolgende Abschnitte zu definieren, damit der weltweiten Wissenschaft einheitliche Bezeichungen, sowie Festlegungen zu Beginn und Ende zur Verfügung stehen.
Im Februar 2024 greift der deutsche Philosoph und Vorstandssprecher der Giordano Bruno Stiftung Michael Schmidt-Salomon die Diskussion auf, die vom niederländischen Metereologen und Atmosphärenchemiker Paul J. Crutzen (1933-2021) an die ICS herangetragen wurde: Crutzen, der 1995 für seine Forschungen zum Ozon-Loch den Nobelpreis für Chemie erhielt, schlug - obwohl selbst nicht Geologe - den Geologen der ICS etwas Unerhörtes vor: Man hätte schon genug Indizien, um ein neues geologisches Zeitalter auszurufen: das Anthropozän. Der Beginn dieses neuen geologischen Zeitalters könnte mit der Erfindung der Dampfmaschine durch James Watt im Jahr 1784 definiert werden. Als geologischen Beweis schlug man 2023 den Bohrkern des kanadischen Crawford-Lake vor. Neben der Erfüllung dieses und anderer Kriterien muss dann auch noch wissenschaftlicher Konsens hergestellt werden. Im März 2024 wurde der Vorschlag von der ICS abgelehnt. Trotzdem hat der Begriff inzwischen, eben durch die Publikationen des Paul J. Crutzen einige Bekanntheit erlangt. Auch die Diskussion über die offizielle Anerkennung ist weiterhin sehr aktuell. Um weltweit als Standardbezeichnung für die Gegenwart anerkannt zu werden, müssen noch unbestreitbare Definitionen erarbeitet und eine Einigung über den Anfang erziehlt werden.
Schmidt-Salomon greift seinem Buch "Die Evolution des Denkens" besonders die wichtigen gesellschaftlichen Auswirkungen auf, die mit dem Verständnis der Gegenwart als Erdzeitalter des Anthropozän verbunden sind. Herausragendes Merkmal dieses neuen Erdzeitalters besteht in der Verfügbarkeit globaler Technologien, die der Menschheit zunehmend die Möglichkeit geben, auf globale Parameter Einfluss zu nehmen. Seit Crutzens Forschungen zum Ozonloch ist besonders das Klima der Erde zu einem Thema geworden, auf welches die fortschreitende menschlische Zivilisation und insbesondere die Wirtschaft unbestreitbare Auswirkungen mit sich brachte. Dadurch hat sich aber vor allem ein neues Bild des Menschen als Umweltschädling verfestigt, der die wunderbare Harmonie der Natur stört.
Gerade aber Paul Crutzen überrascht hier mit einem ganz anderen Ansatz. Er sieht die vielen Möglichkeiten des Menschen auch als die Quelle, die Zukunft unseres Planeten langfristig zu schützen. Da wir immer besser verstehen, welche multikausale Wirkungszusammenhänge das Wohl und Weh unserer Heimatwelt bestimmen, wird es nun tatsächlich denkbar, weit über die Eindämmmung des Ozonlochs hinaus langfristige und kurzfristige Wirkungsketten verstehend zu steuern. Diese Forschungsergebnisse sind irreversibel dokumentiert und können zwar ignoriert, aber nicht mehr zum Verschwinden gebracht werden. Ein Beispiel ist die fortlaufende Messung der Meerestemperaturen durch Sentinel 3A (im Bild oben). Forschungsarbeiten wie diese sind bereits verfügbar, obwohl beträchtliche Ressourcen durch Entwicklung von Rüstungsprojekten gebunden (Schätzungen reichen bis zu 50 %). Durch die aktuellen Kriege muss man sogar von einem weiteren Schwerpunktverlagerung von zivilen hin zu Militärressourcen ausgehen.
Trotz dieses traurigen Umstandes ist auch die nichtmilitärische Beobachtung der Erde nicht stehengeblieben. Hier darf die die Europäische Weltraumagentur ESA sogar auf eine Vorreiterrolle pochen. Beginnend mit den 5 Typen der Sentinel-Erdbeobachtungs-Satelliten folgten inzwischen Missionen zu Umwelt-, Klima-, Wasser-, Schwerkraft-, Landwirtschaft-, Wind-, Wolken-, Biomassebeobachtung. Würde nun das schon bestehende Know-How aller Staaten der Erde gebündelt und allen zugänglich gemacht, würde dies einen enormen Schub auslösen. Eine wahre Explosion an Weiterentwicklung des Verständnisses unserer Erde allerdings könnte durch gemeinsam ausgearbeitete, gemeinsam durchgeführte und gemeinsam ausgewertete Projekte ausgelöst werden. An der Internationalen Raumstation ISS, an der einst ESA, NASA, JAXA, weitere nationale Agenturen und die russische ROSKOSMOS gemeinsam arbeiteten, kann man gut ersehen, dass die Vision der weltweiten Kooperation schon weiter gediehen war und zuletzte schwere Rückschläge erfahren musste.
Es ist insbesondere das Aufzeigen dieser brachliegenden Potentiale, das die Ausrufung eines neuen Zeitalters Anthropozän zum intellektuell fundierten konstruktiven Zukunftsszenario heranwachsen lassen. Allerdings kann die Weltgemeinschaft auch - Potentiale schön und gut - am Zusammenleben scheitern. Kräfte, die den wahren Glauben für wichtiger halten als einen faulen Frieden mit Ungläubigen, sind immer noch bereit, ihr Heil in der Ausrottung aller Irrgläubigen zu sehen. Diese radikale Sicht mag eine Minderheit sein, doch sichert denen ein reineres Gewissen, die die Anderen bloss "outperformen" möchten, sei es durch höhere Anzahl von Kindern, sei es durch die überlegene Reinheit ihres Glaubens, sei es durch stramme Organisation. Wie aggressiv die Vorstellung nun auch sein mag, solche Visionen für die Welt bestehen letztlich doch aus einer Übernahme des eigenen Systems durch die anderen. Das Spiegelbild dazu ist die Furcht, sich anderen anpassen zu müssen, z. B. den 1,4 Milliarden Chinesen (die ebenfalls 1,4 Milliarden Inder werden hingegen weniger oft genannt).
Das Verständnis, unser aller Leben als Leben im Anthropozän zu sehen, hat das Potenzial, eine Zukunft sichtbar zu machen, die es wert ist, nicht verspielt zu werden. Ganz besonders öffnet es den Blick auf wesentlich lanfristigere Themen, die für unser Leben als Menschheit entscheidend sein werden. Das Wissen über die Klimazusammenhänge kann uns nicht nur helfen, die jetzt gefährliche Ausmaße annehmende Klimaeerwärmung, sondern auch die im langfristigen Lauf der Zwischeneiszeit drohende neuerliche Eiszeit zu vermeiden. Das Wissen über die Klimahölle auf der Venus enthält unbezahlbar wertvolle Information für unseren Planeten. Die Abwehr von Kometen könnte dereinst galaktische Katastrophen wie den Meteoreinschlag von 65 Millionen Jahren verhindern. Alle Hoffnungen, die zur Zeit der Aufklärung eine durch Zugang zu Bildung befreite Menschheit erhofften. scheinen durch die Realität des 21. Jahrhunderts überholt. Bildung stellt sich als durchaus komplexes Thema heraus.
Was allen den fragilen neuen Visionen eine vielleicht entscheidende neue Dynamik verleihen könnte, ist ein immer sichtbareres Wissen über die Bedrohung, vor der unser Planet steht. Dieses Szenario könnte einen Unterschied machen. Ob es schon ausreicht, auf eine kommende Bedrohung aufmerksam gemacht zu werden, oder ob sie bereits bei mir angekommen sein muss, um von der Mehrheit der Menschheit ernstgenommen zu werden, wird über die Schmerzen entscheiden, unter der wir Menschen unsere Lektion lernen. Mein Leben als ein Leben im Antropozän zu verstehen, könnte den Schmerz verringern.
Gleichsam aus der Zukunft blickt hier Paul Crutzen auf unsere Gegenwart zurück.
Anthropozän, das war das Zeitalter, als die Menschen sich aufrafften, Verantwortung für das Zusammenleben auf einem gemeinsamen Planeten zu übernehmen.
Anthropozän, dass war das Zeitalter, als sie bemerkten, dass nicht der Andersdenkende das Problem ist, sondern dass diese Welt mehr als genug Platz für diese anderen Menschen (wie auch für mich) hat, die bereit sind, einander den Raum zum Leben zu geben.
Anthropozän, das war das Zeitalter als ein Denker namens Immanuel Kant eine Grundform vernünftigen Zusammenlebens formulierte, die Grundlage des Zusammenlebens aller Menschen bilden kann: Lebe so, dass du wollen kannst, dass alle so leben.
Anthropozän, das ist die Zeit, in der wir leben.
Ein interessanter, relevanter und notwendiger Beitrag. Ohne Hysterie, mit einem ganzheitlichen Denkansatz, der für eine gedeihliches Zusammenleben auf unserem Planeten immer wichtiger wird.
Danke dafür, habe etwas Neues oder besser gesagt, eine neue Herangehensweise kennen gelernt.
Johann Hinterleitner