Neuer zwischenstand aus Athen
Aktualisiert: 17. Aug.
Nicolas Stemanns Fassung Die Orestie I-IV, Pernerinsel, Hallein, 7. August 2024, Salzburger Festspiele
Verkehrte Welt! Wie sehr hätte ich mir gewünscht, die Zeiten am Hof des griechischen Herrscherhauses von Mykene wären so ganz anders gewesen als unsere Gegenwart. 3300 Jahre sind vielleicht vergangen, seit der griechische König Agamemnon siegreich vom Krieg um Troja zurückkehrt. Troja ist nicht mehr, es ist ausgelöscht! Die Signalfeuer haben die Zeichen vom Sieg von Insel zu Insel durch die Ägäis weitergetragen. Die Daheimgebliebenen malen sich schon die siegreichen Heldentaten aus, erwarten die Rückkehr strahlender Sieger. Sie selber waren ja "leider" verhindert, hätten nur allzugern selber den ruhmreichen Kampf bestritten.
Doch schon der erste Bote, der den Tross des Königs ankündigt, mag nichts von Triumphen und Heldentaten erzählen. Er, der es nun bis ins Heimatland zurück geschafft hat, will nur noch sterben! Auch als Agamemnon eintrifft, lösen die vorbeiteten lobpreisenden Reden bei ihm nur Beklemmung und Missttrauen aus. Sosehr hat er sich durch die Erfahrungen des Krieges gewandelt, dass er die Empore gar nicht besteigen und die Triumphrede nicht halten will. Alle Überredungskunst muss seine Frau Klytaimestra aufbieten damit der Argwöhnende sein altes Haus wieder betritt. Ihn, der sich gegen alle Gefahr und alles Grauen des Krieges zu wehren wusste, ereilt nun Rache seiner Frau. Mit einem Beil erschlägt sie den wehrlos in der Badewanne liegenden Triumphator. Welche Rache, wie, was? Wer es noch nicht wusste, erfährt nun: sie hat ihm nie verziehen, dass er bereit war, Iphigenie, beider Tochter zu töten, um den erforderlichen Wind für die Überfahrt seiner Truppen nach Troja zu gewinnen.
Schon ist man erneut einen Schritt zurück unterwegs: die erboste Göttin Artemis musste laut den Aussagen des Seher Kalchas besänftigt werden, um diesen so wichtigen Wind für seine hilflos im Meer treibende, von Meutereien bedrohten Kriegsflotte zu gewinnen. Diese Opferung der Tochter, die in ebenfalls in vielen Werken der Weltliteratur weiterverarbeitet wurde, wird ihm nun zum Verhängnis. Die genialen Vernetzungen in der griechischen Literatur zwingen fast dazu, immer noch weitere Beweggründe zu erklären. Schon ist man noch einen weiteren Schritt zurückgegangen. Der folgenschwere Entschluss, zu einer Strafexpedition nach Troja aufzubrechen, hat einen ebenfalls zeitlos berühmten Grund: Die schöne Helena, Schwägerin des Agamemnon ließ sich von Paris, einem trojanischen Prinzen entführen. Diese Schmach zu rächen wurde also zur Rechtfertigung, seine eigene unschuldige Tochter Iphigenie zu opfern! So weit wie in die Vergangenheit führt Nicolas Stermann den Zuseher aber auch in die Zukunft.
Er hat nicht nur den Text völlig neu verfasst, sondern auch eine "Musik", eher eine die Handlung betonende Geräuschkulisse dazu geschaffen. Eine ausführliche Erörterung des hochkomprimierten Abends ist naturgemäß hier gar nicht möglich. Steman, der Anfang selbst auftritt und sich wie schützend vor das Team an Schauspielern, Musikern und weiteren Mitwirkenden stellt, behält nicht nur den Überblick über die Verwicklungen der dargestellten historischen Charaktere, die von nur 5 Schauspielern grandios dargestellt werden. Gerade ermordete stehen wieder auf und suchen Einfluss auf die gerade Handelnden und halten das Rad der Rechtfertigung und Rache fortwährend am Laufen. Dabei jongliert Stemann mit den existierenden Textvarianten der drei Autoren Aischylos, Sophokles und Euripides. In seinen Interviews zeigt er sich besonders davon beeindruckt, dass in diesem antiken Stück letztlich jeder recht behält - allerdings nur aus seiner Sicht und unter geflissentlicher Ausklammerung von Ereignissen, die ihn nicht betreffen. Die Fülle an Opfern und Morden werden nicht von verrückten Verbrechern ausgeführt. Sie alle werden reichlich begründet und letztlich als unausweichlich gerechtfertigt - vor sich selbst und vor anderen. Treiber der nicht mehr zu stoppenden Spirale der Rache sind freilich Anweisungen von Göttern. Kalchas offenbart die Bedingungen der Artemis, nämlich die Opferung der Iphigenie. Immer wieder setzen Menschen Handlungen, die sie nur in Erfüllung eines "höheren" Willens wagten. Diese heiligen Handlungen generieren freilich ihrerseits wieder Verbrechen aus dem Motiv der Rache, auch wenn die zu rächende Aktion eigentlich von Göttern angestiftet wurde. Die Zeche zahlen immer die sterblichen Menschen, die von den unsterblichen Göttern solcherart sogar mit Absicht dezimiert werden.
Orest, Sohn des Agamemnon und namensgebender tragischer Held schließlich wird vom Gott Apollo zum Muttermord angestiftet, zu dem er sich anfangs widersträubend von seiner Schwester Elektra doch überreden lässt. Dieser weitere Mord führt schließlich zu einem vorläufigen Schluss und eigentlichen Höhepunkt des Abends. Ein Gericht soll entscheiden, ob Orest wegen des begangenen Muttermordes nun verurteilt werden muss oder ob sein Mord auf Grund des von ihr zuvor begangenen Gattenmordes gerechtfertigt war. Hier wird von Aischylos die grandiose Vision einer Lösung des alten Kreislaufs aus Verbrechen und Rache vorgestellt. Anstatt der fortgesetzten Rache wird nun ein Aeropag-Gerichtshof gegründet, der in Zukunft Gericht sprechen wird. Da die demokratische Abstimmung der Bürger von Athen im Falle des Orest (wie auch diejenige im Halleiner Publikum) keine Mehrheit ergibt, nimmt die Vorsitzende des Gerichts, Athene ihr Recht auf ihre doppelte Stimme wahr und sie spricht Orest frei. Auch an die immer Zwietracht durch neue Racheforderungen hervorrufenden Erynnien (Rachegöttinnen) hat Aischylos gedacht. Sie werden ebenfalls von ihrem Wahn befreit und sind als Eumeniden (die Wohlgesinnten) fortan die Beschützerinnen der Stadt und wahren über das Recht. Ihr neuer Leitspruch: Fortan siege stets unser Bemühen für das Gute!
Die Ideen der antiken Demokratie - insbesondere die Abtretung der Gewalt an ein Gericht - war durchaus fragil. Die Zeit des Trojanischen Krieges - sollte dieser tatsächlich stattgefunden haben - wird etwa im 13. Jhdt vuZ angenommen, somit etwa 850 Jahre vor der Uraufführung der Orestie im Jahre 458 vuZ im Dionysos-Theater am Fuße der Akropolis von Athen. Vom Regisseur Nicolas Stemann wird auf die starke Wandlung des eher idealistischen Traums Aischylos hin zu einer sehr pessimistischen Sicht des Euripides hingewiesen, der den Prozess um Orest als völlig ungerecht und zerredet von einer Vielzahl von Lobbyisten zu einer Farce entstellt. Der Perspektivenwechsel in der kurzen Zeit von etwa 70 Jahren zwischen Aischylos' Orestie und Euripides' Elektra weist auf die gesellschaftliche Diskussion ihrer Zeit hin. Der ungewisse Ausgang des Orest-Prozesses ist vor allem ein ungewisser Ausgang des Projektes Demokratie zur Zeit der Autoren. Doch wird es wenige Zuschauer gegeben haben, denen die frappierenden Parallelen nicht unter die Haut gingen. Welche Kräfte werden obsiegen, welchen Einflüsterern geben wir nach, um Unterstützung für unsere persönliche Version von Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen? Der tosende Applaus der bis zum Schluss gebliebenen drückte es aus: Auch unsere Demokratie braucht eine Weiterentwicklung - sie ist ein Zwischenstand !
Dionysos-Theater in Athen, Ort der Uraufführung der Trilogie Orestie im Jahre 458 vuZ
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