Wer braucht noch Religion?
Die Wahlen stehen vor der Tür. So weit, so bekannt. Könnte es in irgendeiner Form die Stimmabgabe an diesem Wahltag, den 29. September beeinflussen, was in den letzten Tagen über den regelmäßigen Mitgliederschwund der beiden großen christlichen Konfessionen oder gar den noch viel dramatischeren Schwund an Gottesdienstbesuchern zu lesen war?
Ach nee oder na, geh? Obwohl, vielleicht doch - durch die Hintertür, es sickert da ein Thema ins politische Bewusstsein, das ein Aufreger auch in politisch wenig interessierten Haushalten geworden ist. Es geht um die Zunahme der Zahl von muslimischen Kindern in den Schulen, die kaum noch zu übersehen ist. Ein ebensolches "Übersehen und Wegschauen" freilich kann man als einen schweren Vorwurf an die Politik von den Eltern hören. Insbesondere im Wiener, wohl aber generell im städtischen Raum hat die demografische Entwicklung - so nennt man das wohl - nun die Volks- und Mittelschulen massiv erreicht. Unzählige Aspekte hat dieses Phänomen, von denen ich nur zwei herausgreifen möchte.
Politisch - und hier kommt die anstehende Wahl doch ins Spiel - scheiden sich am richtigen Umgang mit dem an sich unbestrittenen Faktum die politischen Geister. Bekanntlich stammt ein großer Teil der in den letzten Jahren zugewanderten Personen - und eben auch vieler kinderreicher Familien - aus moslemischen Ländern. Damit vergrößert sich die schon bestehende Überforderung des Lehrpersonas aufgrund mangelhafter Sprachkenntnisse noch weiter. Zur Wahrnehmung der eigenen "anderen" Nationalität wird mit voranschreitendem Alter der Islam als eine mächtige und äußerst schwer überbrückbar empfundene Verschiedenheit wahrgenommen. Die Weigerung, Lehrerinnen zu akzeptieren, ihnen die Hand zu geben, weil sie Frauen sind, wird bei männlichen Jugendlichen in der Pubertät auch entsprechend aggressiv kommuniziert. Auch zur Einhaltung des Fastenmonats Ramadan bringen die Schüler die Vorstellungen ihrer Eltern in die Schulklassen mit. Entsetzt registieren traditionell eingestellte Eltern, dass die Lehrer den Kindern die Teilnahme am Ramadan verbieten. Schon entsteht weiteres Konfliktpotential, obwohl Lehrkräfte nur völlig selbstverständlich eine weitere Beeinträchtigung der ohnehin sprachlich benachteiligten Schüler vermeiden wollen. Solche Situationen können von den Lehrkräften sicherlich bewältigt werden, wenn es sich um zwischendurch mal vorkommende Einzelfälle handelt. Was aber, wenn schon die Hälfte der Klasse muslimische Schüler sind?
Im Hintergrund solcher unter betroffenen Eltern offen diskutierten Konflikte wirken noch andere gesellschaftliche Änderungen. Die schwindende Präsenz katholischer Religion wird auch von katholischer Seite selbst mit einiger Lethargie zur Kenntnis genommen. Schließlich hat man sich an diesen Prozess längst gewöhnt. Nach einer Titelgeschichte im profil im Juni nahm zuletzt in der Sonntagsausgabe des Kurier vom 1. September Pater Karl Wallner, als Direktor der päpstlichen Missionswerke "missio" in Österreich offen dazu Stellung. Die oben einfgefügte Grafik kombiniert hier Echtdaten der Statistik Austria mit eigenen Prognosen von missio bis 2041. Die Echtdaten bis 2021 weisen einen Rückgang des Anteils an der Bevölkerung von 89 % des Jahres 1989 auf nur noch 55 % (trotzdem: immer noch 4,7 Millionen). An der Kurve ist besonders der Knick von der Jahrtaustendwende bis 2021 auffällig. Er bedeutet für die letzten 20 Jahre ein Rückgang um 19 %. Als wäre das nicht alarmierend genug, setzt missio dort mit ihrer Prognose für die nächsten 20 Jahre fort und die hat es in sich: weitere 18 % Rückgang auf 32%. Weitere schlechte Nachrichten aus katholischer Sicht stellen außerdem die Gottesdienstbesuche dar, sie sind bei 3 % der Bevölkerung ebenfalls auf einem Tiefstand angelangt. Demgegenüber bekennen sich derzeit über 8 % zum Islam, vor 50 Jahren waren dies nur 0,3 %. Hervorragend aufbereitete statistische Details verrät die Plattform STATISTA zum Thema Religion. Dort findet sich übrigens eine tröstliche statistische Zahl, auf die auch Pater Wallner hinweist: Die Anzahl der Katholiken steigt weltweit kontinuierlich und beträgt mittlerweile 1, 4 Milliarden Mitglieder. Und noch eine Zahl findet sich dort: auch wenn die Zunahme des musilimischen Anteils der Bevölkerung die größte Aufmerksamkeit erfährt, ist auch die Anzahl der Konfessionslosen auf 22 % angewachsen und die Zahl derer, die Religion unwichtig finden, beträgt heute in Österreich 65%.
Um diesen Teil der Gesellschaft geht es auch im Newsletter der deutschen Giordano - Bruno – Stiftung vom 29. August 2024: In Deutschland gibt es ebenso viele Konfessionsfreie (46 %) wie Katholiken (24%) und Protestanten (22%) zusammen. Dramatischer noch liest sich dieser aktuelle Stand, wenn man die Daten vor 50 Jahren zum Vergleich heranzieht. 1974 waren noch 90 % der Deutschen entweder katholisch oder protestantisch. Nur 5 % hingegen waren vor einem halben Jahrhundert konfessionsfrei. Und noch eine Zahl muss genannt werden: Nur 5 % aller Deutschen gehen regelmäßig in Synagoge, Moschee oder Kirche.
Kann die große Krise in den Grundschulen damit gelöst werden, dass man nun heldenhaft nicht aus der Katholischen Kirche austritt? Sollte dies der verbliebene letzte Grund sein, wozu wir eine eigentlich irrelevant gewordene katholische Kirche brauchen: um die Zunahme von Muslimen in den Schulen zu verhindern? Oder muss doch mehr getan werden, als in den Schulen katholischen Religionsunterricht, katholische Symbole wieder dominanter herzuzeigen?
Das Verständnis zur Rolle der Frauen, zur Freiheit der Religionswahl, zur Freiheit der Meinung, zu Menschen mit anderer Religion sind demokratische Werte, ethische Werte. Nur sie können auch letztlich die Freiheit der persönlichen Religionsausübung für alle sichern. Die Freiheit, das Ausmaß von Interesse an Religion mit Selbstcourage zu behaupten, mag nicht der grobe Klotz sein, den sich viele für den wahrgenommenen groben Keil wünschen. Und doch ist ein übergeordneter Standpunkt erforderlich, will man nicht (wohl vergeblich) die eigene Überlegenheit durch Kopieren des Verhaltens des vorgeblich Unterlegenen erreichen. Halten wir die offene Gesellschaft für das überlegene Modell, nun hier ist die Chance, etwas dafür zu tun!
Massivem Machtanspruch durch massives Verbieten zu entgegnen ist zwar ein probates Mittel für die Begründung von Verhältnissen wie vor einem Bürgerkrieg. Auch wir Österreicher wissen ja recht gut, wie sowas geht. Wer einen solchen nicht anstrebt, wird um die angedeuteten mühsamen extra Meilen nicht herumkommen.
Für eine von weiterer Marginalisierung herausgeforderte Kirche wächst in Riesenschritten eine neue Herausforderung heran: Ist sie sich darin einig, sich gegen eine Vereinnahmung durch diejenigen zu wehren, die heute den Islam und morgen schon jede andere von ihnen abweichende Meinung verbieten möchten?
Eine lohnende Herausforderung für säkulare wie auch kirchliche Kräfte, eine gemeinsame offene Gesellschaft zu erhalten und auch weiterhin zu fördern. Manchmal kann das auch bedeuten, deren Entstehen erst einmal nur nicht unmöglich zu machen. Eine Arbeit, die auch Einfluss auf die aufgezeigten Trends haben könnte, die ansonsten abzusehen sind.
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