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Eine (nicht zu lange) neue Erzählung braucht das Land


Als aufklärerischem Geist liegt es mir immer nahe, nach Sachlichkeit zu rufen, wenn wieder einmal die politischen Grabenkämpfe jeden sachlichen Diskurs im Ansatz abzuwürgen drohen. Vielleicht liegt es an der nicht so ganz selbsterklärenden Wortbedeutung von "Sachlichkeit", die extra Zeit zur Reflektion erfordert, vielleicht aber einfach nur an der Länge des Wortes, dass so rein gar niemand auf solche Rufe antwortet. Doch seit ich letzte Woche die Lektüre des Buches "Das große Welttheater" des Hamburger Philosophen Philipp Blom zu Ende brachte, gibt es für mich noch eine einleuchtendere Erklärung für die objektive Chancenlosigkeit der Sachlichkeit. "Das große Welttheater" weist nämlich auf einen anderen roten Faden in der westlichen Kulturgeschichte hin, ohne den viele bedeutende Entwicklungen schwer verständlich bleiben. Es ist die Macht der Erzählungen. Nicht allein der Inhalt (= die Fakten) macht die Qualität einer Aufführung im großen Welttheater aus, es ist immer auch die Geschichte, in die dieser Inhalt eingebettet ist, die über deren Schlussapplaus entscheidet. Nicht zu vergessen auch die Leistung der Schauspieler und die mehr oder weniger gute Vermittlung der Geschichte. Dies könnte man nun beklagen und damit verbunden über diese so entmutigend unvernünftige Grundnatur des Menschen jammern. Machen es doch diese beobachtbaren Anziehungskräfte der guten Erzählungen den ach so gut meinenden gar so schwer, sich verständlich (oder gar beliebt) zu machen.


War es die Erzählung der immer weiteren Vertiefung der Europäischen Integration, die doch alle zu wünschen schienen, die Erzählung vom großartigen Aufbauwerk der Nachkriegsgeneration, dem Versprechen des schier unbegrenzten Potentials der Bildung und nun diejenige vom Musterland in der Überwindung der Corona-Krise. Erzählungen, die lange gültig bleiben und lange wirken, sind rar. Doch was soll es, wenn nur bald eine neue Erzählung die Stelle der alten gerade etwas Abnutzung zeigende Geschichte ablösen kann! So basteln die Oppositionsparteien auch gerade an ihrer eigenen Erzählung von der tapferen Opposition, die nun endlich den Bundeskanzler entzaubert hat. Auch die Medien feiern jetzt, dass der Gesundheitsminister als Administrator und Fomulierer aller Verordnungen zur Eindämmung der Coronakrise an Beliebtheit denjenigen übertroffen hat, der doch gleichzeitig als berechnender Angstmacher und Oberschurke schuldig an diesen "längst unverhältnismäßig gewordenen Maßnahmen" und unfähiger Reparierer, dessen Folgen durch ebendieselben Medien geprügelt wird. Nun, die Chancen stehen gut, dass dieser kleine Schwindel im Dienste der großen Sache unentdeckt, zumindest aber ungestraft bleiben wird.


Wer aber könnte denn die fehlende neue Erzählung präsentieren, die aus den Erfahrungen der letzten Monate glaubhafte intelligente Konsequenzen zieht und uns nicht nur zu beweisen sucht, dass uns unfähige, faule und rundum ehrlose Gesellen in diese Misere geführt haben. Tatsache wäre ja, dass diese unvergleichlich komplexe Aufgabe durch Kooperation aller und der Hintanstellung von Parteiinteressen noch am besten bewältigt werden kann. Nur: durch welches Parteigremium könnte es eine solche Erzählung schaffen?


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